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Was ist Kinästhetik?

Kinästhetik (englisch Kinaesthetics) ist ein Fachgebiet, das sich mit der Entwicklung der Bewegungskompetenz als einer der zentralen Grundlagen des menschlichen Lebens auseinandersetzt.

Der Begriff Kinästhetik kann mit «Kunst / Wissenschaft der Bewegungswahrnehmung» übersetzt werden. Entsprechend ist die Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung ein zentrales Thema der Kinästhetik.
Die Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Bewegung bildet dabei die Grundlage. Ziel ist eine differenzierte Achtsamkeit für die Qualitäten und Unterschiede der eigenen Bewegung in allen alltäglichen Aktivitäten und Interaktionen.

Seit den 1980er-Jahren wird im Rahmen der Kinästhetik eine differenzierte und systematische Beschreibung der erfahrbaren Unterschiede der menschlichen Bewegung entwickelt, das sogenannte Konzeptsystem. Von Anfang an interessierte dabei auch die Entwicklung der Bewegungskompetenz im Zusammenhang mit der Gestaltung der zwischenmenschlichen Interaktionen durch Berührung und Bewegung.

Im Gesundheit- und Sozialwesen findet die Kinästhetik überall dort Anwendung, wo Menschen eine Unterstützung in ihren alltäglichen Aktivitäten brauchen. Die Kinästhetik zielt einerseits auf eine Reduktion von arbeitsbedingten körperlichen Beschwerden und Überlastungsschäden bei Pflegenden, Betreuenden, TherapeutInnen oder auch Angehörigen. Andererseits hat sie zum Ziel, dass diese ihre Interaktionen über Berührung und gemeinsame Bewegung mit betreuungsbedürftigen Menschen professionell gestalten können. Dabei geht es darum, die alltägliche Unterstützung so zu gestalten, dass der betreffende Mensch seine Bewegungsmöglichkeiten so weit wie möglich ausschöpfen und seine Bewegungskompetenz erhalten und erweitern kann.

In Bezug auf die Unterstützung und Betreuung anderer Menschen vertritt die Kinästhetik ein Lern- oder Entwicklungsparadigma. Es beruht auf einem kybernetischen Verständnis von Lernen und Entwicklung und geht davon aus, dass das Leben ein ununterbrochener, selbstgesteuerter Lernprozess ist. Vor diesem Hintergrund ist jede auch noch so alltägliche Hilfestellung zugleich ein Lernprozess für beide Beteiligten. Wie Pflegende oder Betreuende jemanden unterstützen, sich zu waschen, sich auf die Seite zu drehen, sich anzuziehen oder sich fortzubewegen, ist für den Lernprozess des betreffenden Menschen ausschlaggebend. Er kann dazu führen, dass dieser Mensch seine Bewegungs- und Anpassungsmöglichkeiten zugunsten seiner Lebensqualität erweitert, aber auch dazu, dass er sie vermindert.
Die Qualität seines Lernprozesses hängt wesentlich von der Qualität der konkreten Interaktionen über Berührung und gemeinsame Bewegung ab.

Für eine professionelle Unterstützung anderer Menschen ist es deshalb unabdingbar, die Interaktion auf dieser Ebene bewusst in den Fokus zu rücken und gezielt zu gestalten. Pflegende, Betreuende, TherapeutInnen und Angehörige brauchen eine hohe Bewegungs- und Interaktionskom­petenz, damit ihr Handeln die Eigenaktivität, Selbstwirksamkeit, Selbstständigkeit und damit die Gesundheitsentwicklung der ihnen anvertrauten Menschen unterstützt.

In der alltäglichen Umsetzung ist dies eine anspruchsvolle Herausforderung. Sie verlangt die Bereitschaft, auf die eigene Bewegung zu achten, jedes Unterstützungsangebot individuell an den betreuungsbedürftigen Menschen und die aktuelle Situation anzupassen – und nicht rezeptartigen Standards oder Abläufen zu folgen.

Um die Kinästhetik in einer Institution des Gesundheits- oder Sozialwesens nachhaltig und wirksam umzusetzen, reicht es nicht, die MitarbeiterInnen in Kursen zu schulen. Die anspruchsvollen Lern- und Entwicklungspro­zesse müssen im beruflichen Alltag auf verschiedenen Ebenen systematisch gefördert und zusammengeführt werden. Dazu brauchen die Mitarbeiter­Innen die Unterstützung und Begleitung durch die «SpezialistIn für angewandte Kinästhetik».